"Oro pro te sicut pro me":
Berthgyths Briefe an Balthard als Beispiele produktiver Akkulturation
Janina Cünnen
(Freiburg i.Brsg.)
Der Terminus ‘Akkulturation’ soll in diesem Kontext zwei literarische Prozesse beschreiben: Zum einen den Verlauf einer Sonderform der ‘Übersetzung’ und zum anderen die traditionelle Bedeutung des Begriffs ‘Übersetzung’, d.h. den Transfer gleicher Inhalte von einer Sprache in eine andere. Da der letzte Punkt keiner näheren Erläuterung bedarf, eine kurze Ausführung zu Punkt 1. Gemeint ist hier nicht die sprachliche Übersetzung, sondern die kulturelle. Gleiche Themen werden bei gleichbleibender Sprache von einer Kultur in eine andere transferiert, wobei die kulturelle Übersetzung Voraussetzung für die nachfolgende sprachliche Übersetzung ist. Für die hier zur Diskussion stehenden Briefe bedeutet das: Erst nach der ‘kulturellen Übersetzung’ antiker und patristischer Themen in die frühangelsächsische Zeit, in der die lateinische Sprache beibehalten wurde, konnte innerhalb dieser Kultur die ‘sprachliche Übersetzung’ der Themen in die Mundartsprache erfolgen. Der Sprachwechsel hatte hier auch einen Gattungswechsel zur Folge.
1. Angelsächsische Briefe
Aus angelsächsischer Zeit ist ein umfangreiches Briefkorpus überliefert. Der Großteil der Briefe stammt aus dem 8. Jh., der Blütezeit angelsächsischer Briefkultur. Zu diesen gehören auch die Briefsammlungen des Bonifatius (672/675-754), Lullus (710-786) und Alkuin (730-804) sowie einige Einzelbriefe. Diese bilden einen Schnittpunkt zwischen historischem und literarisch-kulturellem Interesse. Im Gegensatz zu dem Werk Alkuins standen die Korrespondenzen des angelsächsischen Missionars Bonifatius, in dessen Editionen auch die Briefe seines Nachfolgers Lul integriert sind, früh im Zentrum wissenschaftlicher For-schungen. Den literarischen Wert der Briefe entdeckte man jedoch erst in neuerer Zeit. Das besondere Interesse gilt dabei den sogenannten ‘weiblichen Korrespondenzen’, d.h. den an Frauen gerichteten und von Frauen verfaßten Briefen. Eine erste maßgebliche Untersuchung lieferte dabei Ursula Schaefer, die einige Briefe unter komparatistischen Aspekten mit den altenglischen Elegien verglich. Die im Mittelpunkt dieser Abhandlung stehenden drei Briefe der Nonne Berthgyth an ihren Bruder Balthard werden ebenfalls zur weiblichen Bonifatius-Korrespondenz gezählt. Bei der Betrachtung dieser Frauenbriefe stehen zwei Fragen im Mittelpunkt: 1. Wie konnten diese elaborierten Schriftwerke von Frauen in einer Zeit ent-stehen, die sonst nur Männer als Verfasser von Texten kannte und 2. Wieso beinhalten diese Briefe Motive, die zwar auch aus anderen Literaturen bekannt sind, deren Rezeption und Ver-arbeitung aber in einer für das Frühmittelalter einzigartigen Weise durchgeführt wurden? Die letzte Frage soll im folgenden näher betrachtet werden.
1.1. Berthgyths Briefe an Balthard
In ihren Schreiben an ihren Bruder Balthard thematisiert Berthgyth in variierender Weise ihre Einsamkeit und ihr trauriges Dasein. Es ist nach wie vor ungeklärt, welche historische Person sich hinter dem Namen Berthgyth verbirgt. Tangl identifizierte sie als Tochter Cynehildas, einer Tante Luls. In Balthard glaubte er den von Lul eingesetzten ersten Abt von Hersfeld († 798) zu erkennen. Dümmlers Hypothese, es handele sich um den Laien Balthart, "[...] der in angelsächsischen Urkunden 732-741 (Birch, Cartular. Saxon. 1, 215, 230, 231, 252) genannt ist [...]", schloß er aus.
In jüngerer Zeit setzte sich vor allem Peter Dronke mit der Verwandtschaftsproblematik um Berthgyth auseinander. Er kam zu demselben Ergebnis wie Tangl, nämlich daß Balthard und Berthgyth Kinder Cynehildes waren, einer Tante Luls. Den Zusammenhang zwischen Berthgyth und Bonifatius sieht Dronke in der Missionierungsarbeit auf dem Kontinent, wohin Berthgyth mit ihrer Mutter gekommen war. Ihr Bruder blieb wahrscheinlich in England:
Cynehild and her daughter, ‘very well-nurtured in liberal learning’, had left England and gone, no doubt at Boniface’s behest, to teach in Thuringia. There Berthgyth, after her mother’s death, remained alone, and became painfully lonely. Three times she writes to Balthard, the only relative she has left [...].
Die von Berthgyth überlieferten Briefe befinden sich zusammen mit denen des Bonifatius und Luls in der Handschrift Codex lat. Vindobonensis 751 der Österreichischen National-bibliothek, Wien. Ediert wurden sie von Tangl, der sie jedoch nicht datierte. Peter Dronke setzt die 770er Jahre für ihre Entstehung an.
Der nachfolgende kurze Abriß der Briefe soll zeigen, wie Berthgyth ihre Einsamkeit thematisiert und an welchen frühmittelalterlichen formalen und inhaltlichen Konventionen sie sich dabei orientiert.
In ihrem ersten Brief (Tangl, Nr. 143) beklagt sich Berthgyth bei ihrem Bruder, daß dieser sich lange nicht mehr um sie gekümmert habe. Sie fragt ihn, warum er sich nicht mehr an sie erinnern wolle und so lange zögere, zu ihr zu kommen. Kein anderer Bruder oder Verwandter außer ihm könne sich sonst um sie kümmern:
Quid est, frater mi, quod tam longum tempus intermisisti, quod venire tardasti? Quare non vis cogitare, quod ego sola in hac terra et nullus alius frater visitet me neque propinquorum aliquis ad me veniet?
[Why is it, my brother,
that you have let pass so long a time,
that you have delayed to come?
Why do you not want to remember
that I am alone on this earth,
and no other brother will visit me,
or any kinsman come to me? [...]
Gegen Ende des Briefes stellt sie ihm eine weitere entscheidende Frage: "Nonne pro certo scies, quia viventium omnium nullum alium propono tuae caritati?" [Do you not know for sure that among all the living there is none whom I set higher than your love?] Schließlich beendet sie abrupt und grußlos ihren Brief. Sie verleiht ihrer Verzweiflung und Hilflosigkeit dadurch erneut Ausdruck. In ihrem unsäglichen Leid könne sie ihre Gefühle nicht mehr schriftlich ausdrücken:"Ecce non possum omnia per litteras tibi indicare." [Look, I can’t suggest all this to you by letter.]
Im zweiten Brief (Tangl, Nr. 147) klagt Berthgyth erneut über ihre Einsamkeit, spezifiziert aber ihre Gründe. Es ist nicht nur das vom Bruder Verlassenwordensein, sondern auch die Einsamkeit, die sie seit dem Tod ihrer Eltern verspürt:"Ego enim sola derelicta et destituta auxilio propinquorum. Pater enim meus et mater mea dereliquerunt me, Dominus autem adsumpsit me." [For I am alone, abandoned and deprived of the help of kindred; for my father and mother have left me, but the Lord has taken me]. Wie in ihrem ersten Brief bittet Berthgyth deshalb ihren Bruder, sie zu besuchen. Um ihrem Wunsch mehr Nachdruck zu verleihen, bedient sie sich eines rhetorischen Kunstgriffs, indem sie an sein Gewissen appelliert. Sie bittet ihren Bruder, er möge noch einmal zu ihr kommen, bevor sie sterbe:"[...] ut te conspiciam antequam moriar, [...]." [(...) that I may look on you before I die (...)].
Im Vergleich zum ersten Brief erscheint hier Berthgyths Schreibstil gemäßigter. Ihre Fragen reflektieren eine demütigere und bescheidenere Haltung gegenüber dem Bruder. Der gemäß den frühmittelalterlichen Briefkonventionen formulierte Schluß signalisiert ebenfalls Mäßigung und ihre Bereitschaft, sich den Wünschen des Bruders zu beugen. Sie grüßt ihn in Christus und verspricht, für ihn zu beten:
Salutat te in Christo, frater, soror tua unica. Oro pro te sicut pro me diebus ac noctibus, horis atque momentis, ut sanitatem semper habeas cum Christo.
[Brother, your only sister is greeting you in Christ. I pray for you as for myself, in the days and the nights, in the hours and the moments, that you may always have well-being with Christ.]
Dem Brief fügt sie ein rhythmisches Gedicht in oktosyllabischen Reimpaaren hinzu. In diesem bittet sie Gott um Hilfe für sich und um Gnade für ihren Bruder.
Vale vivens feliciter, ut sis sanctus simpliciter,
Tibi salus per saecula tribuatur per culmina.
Vivamus soli Domino vitam semper in seculo.
Profecto ipsum precibus peto profusis fletibus
Solo tenus sepissima, subrogare auxilia:
Ut simus digni gloria, ubi resonant carmina
Angelorum laetissima aethralea laetitia
Clara Christi clementia celse laudis in secula.
Valeamus angelicis victrices iungi milibus,
Paradisi perpetuis perdurantes in gaudiis.
[Leb wohl und lebe glücklich, so daß Du in Einfalt heilig bist,
Heil für die Ewigkeit werde Dir gewährt im Himmel.
Laß uns allein dem Herrn leben beständig unser Leben auf Erden.
Wahrlich mit Gebeten bitte ich ihn und mit tränenreichem Weinen
Sehr oft auf dem Boden liegend, er möge Hilfe leisten:
Auf daß wir des Ruhmes würdig seien, dort, wo die überaus frohen Lieder
Der Engel erschallen in himmlischer Freude
Und die berühmte Milde Christi voll erhabenen Lobes in Ewigkeit.
Mögen wir uns siegreich den Scharen der Engel anschließen können,
Um in den ewigen Freuden des Paradieses auf Dauer zu weilen.]
Ihr letzter Brief (Tangl Nr. 148) läßt den Schluß zu, daß auch ihre im zweiten Brief formulierte Bitte ergebnislos geblieben ist. Aus diesem Grund bedient sie sich erneut eines rhetorischen Mittels, um ihren Bruder zu überreden, endlich zu ihr zu kommen. Ihr Ton wirkt nun nahezu unterwürfig. Ergeben bestätigt sie Balthard, sich danach zu sehnen, mit Gottes Hilfe das zu tun und zu erfüllen, was er ihr auftrüge, wenn er sich nur herablassen würde, zu ihr zu kommen:
Et nunc fateor tibi, quod implere desidero auxiliante Domino omnia, quae praecepisti mihi, si dignetur voluntas tua venire ad me, quia ullo modo fontem lacrimarum adquiescere non possum.
[And now I confess to you that with God’s help I long to fulfil all you have commanded me to do, if you will deign to come to me - for [otherwise] I cannot in any way assuage my spring of tears].
Sie appelliert an sein Gewissen, indem sie den Vergleich zu anderen Frauen zieht. Diese könnten die Männer besuchen, die ihre Freunde seien. Sie dagegen müsse allein, ohne ihre Eltern, an ihrem Ort verharren. Sie fleht ihren Bruder an, nun endlich diese, sie zutiefst verletzende Sorge von ihrer Seele zu nehmen, auch wenn es nur für einen Tag wäre:
Et nunc, frater mi, adiuro te atque deprecor, ut auferas tristitiam ab anima mea, quia valde nocet mihi. Dico enim, quamvis unius diei spatium sit et iterum perrexeris iuvante Domino in voluntate tua, tamen recedit tristitia ab anima mea et dolor de corde meo.
[And now, my brother, I adjure and beseech you to take away the sorrow from my soul, for it hurts me deeply. For I tell you, even though it were only the space of a single day and you then went home again, the Lord inclining your will, nonetheless the sorrow will then recede from my soul and the pain from my heart].
Schließlich versucht Berthgyth, ihren Bruder in ihrer Verzweiflung erneut zu überreden:"Sin autem displicet tibi implere petitionem meam, tunc Deum testem invoco, quod in me numquam fit derelicta dilectio nostra." [But if it displeased you to fulfil my petition, then I call God to witness, that in me our love would never grow destitute]. Diesen Brief schließt sie ebenfalls mit einem Gedicht in oktosyllabischen Reimpaaren, in dem sie ihren Bruder um beschützende Gebete bittet:
Pro me, quaero, oramina precum; pandent precipua
Tua formosa famina, tuae sophe .... entiae,
Uti nova ac vetera, uti dira discrimina
Christus abolet crimina cum immensa clementia,
Ut armata angelicis vallata legionibus
Dextro ac levo latere dialique maiestate
Have, care crucicola, salutata a sorore.
Fine tenus feliciter famam serva simpliciter.
[Für mich erbitte ich Bittgebete; Deine herausragenden,
Wohlgeformten Worte, Dein weises Wissen [?]
Daß die neuen und alten, daß die grausen Gefahren
und die Schuld Christus mit unermeßlicher Milde vernichte,
Daß er mit Legionen von Engeln bewaffnete Schutzwall
Auf der rechten und linken Seite mit/von himmlischer Majestät.
Sei gegrüßt, teurer Verehrer des Kreuzes, gegrüßt von deiner Schwester.
Bis zum Ende bewahre glücklich in Einfalt deinen Ruf.
In allen drei Schreiben folgt Berthgyth grundsätzlich dem formalen Aufbau mittelalterlicher Briefe. Dieser besteht aus: 1. der Bezeichnung von Absender und Empfänger, deren Ausführlichkeit vom Rang des Korrespondenten und dem Grad der Förmlichkeit abhängig sind, 2. der Grußformel (salutem formula), 3. dem Hauptteil und 4. dem Schlußgruß (vale/valete formula). Gemäß der engen verwandtschaftlichen Bindung formuliert sie einen nur knappen Gruß und läßt den Rang von Sender und Empfänger außer acht. Im direkten Anschluß folgt der eigentliche Gegenstand des Briefes: die Klage über ihre Einsamkeit. Außer in Brief Nr. 143 beendet sie ihre Schreiben mit der üblichen vale-Formel, die sie in Brief Nr. 148 den Konventionen entsprechend als Schlußzeile, in Brief Nr. 147 dagegen als Eingangszeile für ihr Gedicht verwendet.
2. Thematische Quellen und Parallelen
Inhaltlich wirken diese Briefe zunächst unkonventionell, da sie eine überaschende Intimität und Privatheit ausdrücken. Erst bei näherer Betrachtung wird deutlich, daß es sich auch hier um ‘quasi-öffentliche’ Briefe handelt, die lediglich eine Pseudo-Privatheit suggerieren. Berthgyth paßt sich wie ihre Zeitgenossen thematisch den tradierten Normen an und folgt den rhetorischen Konventionen ihrer Zeit. Ihre Klagen über Einsamkeit basieren auf den Themen amicitia und fraternitas absentium, die in fast allen angelsächsischen Briefen zu finden sind. Vorbilder beider Themen sind vor allem in den Schriften Augustins, aber auch bei anderen Kirchenvätern zu finden. Sie lassen sich jedoch noch weiter zurückverfolgen: über die Rezeption römischer Werke durch die Kirchenväter bis hin zu den durch die Römer rezipierten griechischen Werken.
Anhand ausgesuchter Beispieltexte sollen im folgenden die Rezeptionsstufen in den jeweiligen Kulturen kurz dargestellt werden. Den Schwerpunkt bildet jedoch die Übernahme augustinischer Muster. Die so rekonstruierte Rezeptionskette verdeutlicht, daß die vermittelten Motive nicht, wie in der Forschung oft angenommen, auf etwas originär Angelsächsisches verweisen, sondern, daß sie als Ergebnis eines produktiven Adaptions- und Akkulturations-prozesses zu betrachten sind.
Die Themen amicitia und fraternitas absentium setzen sich aus Einzelmotiven zusammen, die im Frühmittelalter und davor auf unterschiedliche Weise verarbeitet und den jeweiligen Intentionen der Briefschreiber angepaßt wurden. Wichtigste Elemente der amicitia sind die alles umfassende ‘Seelenfreundschaft’ (amicitia spiritualis) sowie ‘die gemeinsame Liebe zu Gott’ (sentire deum), die die ‘scheinbare Präsenz des anderen’ hervorruft. Fraternitas absentium beinhaltet die ‘Klage über die eigene Einsamkeit’ aufgrund der ‘Trennung von dem oder der Geliebten’ oder durch den ‘Verlust und Tod von Freunden oder Verwandten’. Der Trennungsschmerz wird durch die räumliche Distanz der Partner – zwischen ihnen liegt meist ein für sie unüberwindbares Meer – betont. Die Gegenwart sowie der Gedanke an die Zukunft werden deshalb zur Qual.
2.1. Die altenglischen Elegien
Das Thema fraternitas absentium wurde im Gegensatz zur amicitia von den Angelsachsen nicht nur für ihre Prosabriefe, sondern auch für die Dichtung rezipiert. So klagt in den Elegien Wulf and Eadwacer, The Wife’s Lament, und The Husband’s Message die verlassene Ich-persona über ihre Einsamkeit.
Wulf und Eadwacer beinhaltet die Liebesklage einer Frau, die zu ihrem Geliebten Wulf, der sich auf einer anderen Insel befindet, spricht. Beide werden von dem (wahrscheinlichen) Ehemann der Frau, Eadwacer, bedroht:
[...] wulf is on iege ic on oþerre [...] Wulf ist auf einer Insel, ich auf einer
anderen
[...] wulf min wulf wena me þine Wulf, mein Wulf, meine Hoffnungen
waren dein // auf dich
seoce gedydon þine seldcymas [...] dein seltenes Kommen haben mich
krank gemacht
(Wulf and Eadwacer, Z. 4 u. 13f.)
Eine ähnliche Trennungssituation liegt in The Wife’s Lament vor. Die klagende Frau lebt in der Wildnis in Gefangenschaft. Wahrscheinlich wurde sie von ihrem Mann verbannt:
[...] is nu swa hit no wære Es ist nun als wenn unsere Freund-freondscipe uncer sceal ic feor ge schaft nicht gewesen wäre.
neah Weit und nah muß ich die
Feindschaft
mines fela leofan fæhðu dreogan meiner viel Geliebten erleiden.
heht mec mon wunian on wuda bearwe Man befahl mir, in einer Erdhöhle
under actreo in þam eorðscræfe. unter einer Eiche im Wald zu leben
(The Wife’s Lament, Z. 24-28)
The Husband’s Message beschreibt die Sehnsucht eines Mannes nach seiner Frau. Anders als die beiden klagenden Frauen schaffte er die soziale Reintegration und möchte nun seine Geliebte zu sich holen:
Hwæt þec þonne biddan het se þisne beam Also, er, der dieses in das Holz
agrof schnitzte, hieß
mich Dich dieses bitten,
þæt þu sinchroden sylf gemunde daß du dich, selbst geschmückt mit
Kostbarkeiten,
on gewitlocan wordbeotunga in Gedanken der Versprechen (selbst) erinnerst,
þe git on ærdagum oft gespræcon die ihr beiden in früheren Tagen oft
gemacht,
þenden git moston on meoduburgum während ihr beide in der bejubelten
Stadt den Wohnort bewachen, das eard weardigan an lond bugan das Land beugen und
freondscype fremman hine fæhþo adraf Freundschaft begehen durftet. Ihn
of sigeþeode [...] vertrieb eine Fehde von den
siegreichen Leuten.
(The Husband’s Message, Z. 14-21a)
Wie in Berthgyths Briefen suggeriert die direkte Anrede an den fiktiven Empfänger die Präsenz des abwesenden Partners. Durch diese Redesituation überwindet die persona physisch und psychisch die Distanz zu ihrem Geliebten:
O frater, o frater mi, cur potes mentem parvitatis meae adsiduae merore fletu atque tristia die noctuque caritatis tuae absentia adfligere?
(Oh brother, oh my brother,
how can you afflict the mind of me, who am naught
with constant grief, weeping and sorrow,
day and night, through the absence of your love?
2.2. Augustins Theorie der amicitia spiritualis
Die Rezeption der amicitia-Thematik aus patristischen Quellen wies bereits Jan Gerchow in seiner Untersuchung des memoria-Gedankens nach. Ich möchte deshalb im Rahmen der Augustin-Rezeption durch die Angelsachsen auf weitere amicitia-Elemente verweisen, die ebenfalls für das Verfassen von frühmittelalterlichen Briefen signifikant wurden.
Für die Tradierung und Rezeption des Themas amicitia kommt dem Werk Augustins (354-430) eine zentrale Bedeutung zu. Obwohl dieser nie eine Abhandlung über die ‘Freundschaft’ schrieb, dienten seine Ausführungen über amicitia, die in fast allen seinen Werken vorkommen, als Grundlage für die meisten der zeitgenössischen und ihm nachfolgenden mittelalterlichen Autoren – besonders aber für die Angelsachsen. Seine zwischen 397 und 401 verfaßten Confessiones, die im Mittelalter als Beispieltexte für Unterricht und Dichtung dienten, reflektieren am deutlichsten seine Auffassungen von ‘Freundschaft’. Sie verdeutlichen den Ent-wicklungsprozeß, den Augustin durchlaufen mußte, um schließlich sein Ideal – die ‘Seelen-freundschaft’ – zu erreichen.
Augustins frühe Vorstellung von ‘Freundschaft’ war geprägt vom klassischen Ideal der mutua caritas. Bei Cicero, für den wahre Freundschaft auf virtus basierte, bedeutete dies:"Est enim amicitia nihil aliud nisi omnium divinarum humanarumque rerum cum benevolentia et caritate consensio." [Freundschaft ist nichts anderes als die wohlwollende und liebende Übereinkunft in allen göttlichen und menschlichen Dingen]. Amicitia wird hier vom engen Zusammenleben der Personen geprägt, die ihre Freude und Lust am Leben teilen. Nach der ciceronischen Phase wandte sich Augustin dem Manicheanismus zu. In dieser Lehre suchte er Selbstverständnis und Wissen, um die wahre Natur des Menschen zu verstehen. Doch erst über den Weg des Neu-Platonismus erkannte Augustin schließlich den Wert der Freundschaft, wie er ihn in seinen späten Briefen vermittelte. Die christliche Lehre eröffnete ihm den Weg zur absoluten Wahr-heit, in der er auch die wesentlichen Merkmale der amicitia spiritualis entdeckte. Seine Mutter Monnica wird in dieser Phase zu seiner wichtigsten Bezugsperson. Sie ist für ihn nicht nur Mutter, sondern auch Freundin. Als gläubige Christin beginnt sie, seine Seele zu beeinflussen, und sie wird zu seiner beschützenden und helfenden Freundin. Den Höhepunkt dieser Be-ziehung sieht Augustin in der Verschmelzung ihrer beider Seelen, die sie eins werden läßt. Nach ihrem Tod findet Augustin schließlich Freunde, die ihm das von ihm gesuchte Ideal vorleben. Nach seiner Taufe durch Ambrosius im Jahr 387 versucht er, seine Trauer und Bitterkeit über ihren Tod durch christlichen Trost (consolatio) zu überwinden. Die Freunde helfen ihm. Venantius Nolte drückt diese Freundschaftsform mit folgenden Worten aus: "[...] aus aller Seelen steigen tröstende, helfende und einigende Kräfte. Es wird die Freundschaft zu einer engen Lebensgemeinschaft." ‘Freundschaft’ dient nun dazu, zu helfen und zu trösten. Ziel ist die gemeinsame Zukunft und die Suche nach Wahrheit. Das absolute gegenseitige Vertrauen bildet die Basis dieser Freundschaft, das schließlich das Gefühl der gegenseitigen Liebe ersetzt und damit zum wichtigsten Kriterium der ‘Seelenfreundschaft’ (amicitia spiritualis) wird. Diese wahre Freundschaft findet ihre Erfüllung in Gott, und der Glaube wird zum wichtigsten Gegenstand der ‘Freundschaft’. Werden die Freunde getrennt, bleiben sie durch Gott vereint. Durch die Präsenz Gottes, die die Präsenz des Freundes beinhaltet, wird die physische Einsamkeit überwunden.
Neben allem neuplatonischen Einschlag und antiker Formung des Freundschaftsle-bens wird hier doch lebendig wirksam die christliche Liebesaktivität, die aus Gott fließt und zu ihm zurückkehrt. Gott und in ihm der Mensch: das ist nun das werdende Ideal der Freundschaftsliebe bei Augustin.
Als Bischof von Hippo dient Augustin diesem christlichen Ideal der caritas christiana, das er in seinen Briefen an die von ihm weit entfernt lebenden Freunde darstellt.
Innerhalb der caritas christiana verschwimmen die Grenzen zwischen amicitia und fraternitas absentium. Die Themen werden nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern gehen ineinander über. Durch das in der amicitia erreichte Ideal der ‘Seelenfreundschaft’, gestärkt vom christlichen Glauben, können durch Gott die Trennung von einem Freund und der damit verbundene Schmerz überwunden werden.
Diese christliche Erlösungskomponente der Patristen wurde in die angelsächsischen Prosabriefe des 8. Jh. hinübergerettet. D.h. bei der ‘kulturellen Übersetzung’ von der Patristik in das englische Frühmittelalter wurde dieses Thema übernommen; Bei der innerkulturellen Übersetzung, d.h. bei der Übersetzung innerhalb der angelsächsischen Kultur in die eigene Volkssprache in eine andere Gattung, dagegen nicht. In der Elegie verharrt die klagende persona in ihrer Einsamkeit und ihr Schicksal bleibt offen.
2.3. Tod und Trost
Berthgyths Briefe verweisen auf weitere Parallelen zu Augustin. Die Nonne klagt nicht nur über ihre Einsamkeit durch die Abwesenheit des Bruders, sondern als besonders schmerzlich empfindet sie den Verlust ihrer Eltern: "Pater enim meus et mater mea dereliquerunt me, Dominus autem adsumpsit me." [(...) for my father and mother have left me, but the Lord has taken me.] Auch Augustin fühlt sich nach dem Tod seiner Mutter einsam und klagt: "Quoniam itaque desrebar tam magno eius solacio, sauciabatur anima mea et quasi dilaniabatur vita, quae una facta erat ex mea et illius." [Darum weil ich von ihrem Troste nun verlassen war, wurde meine Seele verwundet und mein Leben zerrissen, ein Leben war ja aus ihrem und dem meinigen geworden.]
In ebenso schmerzhafter Weise erinnert er sich an den Verlust von geliebten Freunden. Mit eindringlichen Worten beschreibt er seine persönlichen Sorgen nach dem Tod eines Freundes. Das Leben wurde ihm unerträglich und verabscheuungswürdig. Die gewaltsame Trennung beschäftigte ihn Tag und Nacht, und seine verletzte Seele erinnerte ihn ständig an das Geschehene:
[...] post paucos dies me absente repetitur febribus et defungiur.
Quo dolore contenebratum est cor meum, et quidquid aspiciebam mors erat. Et erat mihi patria supplicium et paterna domus mira infelicitas, et quidquid cum illo communicaveram, sine illo in crutiam immanem verterat. Expetebant eum undique oculi mei, et non dabatu; et oderam omnia, quod non haberent eum, nec mihi iam dicere poterant: "Ecce veniet", sicut cum viveret, quando absens erat.
[Nach wenigen Tagen wiederholte sich das Fieber, und er verschied, da ich gerade abwesend war.
Welch ein Schmerz aber war es, der mein Herz umnachtete, und überall starrte mir nur Tod entgegen. Die Heimat ward mir zur Qual und das Vaterhaus zu unsagbarem Leid; was ich mit ihm gemeinschaftlich genossen, das wandelte sich ohne ihn zu unendlicher Qual. Überall suchten ihn meine Augen, aber ich fand ihn nicht; ich haßte alles, weil ich ihn nicht hatte, weil ich mir nicht sagen konnte: "Siehe er kommt!" wie so oft, wenn er eine Zeitlang abwesend war].
Auch Berthgyths Seele ist durch die Trennung von ihrem Bruder verletzt: "Et nunc, frater mi, adiuro te atque deprecor, ut auferas tristitiam ab anima mea, quia valde nocet mihi." [And now, my brother, I adjure and beseech you to take away the sorrow from my soul, for it hurts me deeply]. Wie Augustin nach dem Tod des Freundes, so verspürt auch sie eine Ruhelosigkeit, die sie Tag und Nacht befällt: "[...] neque per somnium mente quiesco [...]" [(...) and even in my dreams I am restless (...)].
In ihrem zweiten Brief verweist Berthgyth auf das augustinische Ideal der Überwindung der Trennung durch die Präsenz Gottes. Nach dem Verlust ihrer Eltern habe Gott sie bei sich aufgenommen. "Pater enim meus et mater mea dereliquerunt me, Dominus autem adsumpsit me." [... for my father and mother have left me, but the Lord has taken me]. Berthgyth ist sich der Hilfe Gottes wohl bewußt, doch im Gegensatz zu Augustin genügt sie ihr nicht. Aus diesem Grund insistiert sie auf dem Besuch des Bruders.
2.4. Fraternitas absentium
Augustin erwähnt in seinen Briefen immer wieder die für ihn schmerzliche Trennung von seinen Freunden in Europa. Dieses Motiv wird auch von seinen Freunden übernommen. So schreiben beispielsweise Paulinus und Theresia: "Charitas Christi quae urget nos, et absentes licet per unitatem fidei alligat [...]." [The love of Christ which constrains us, and which unites us, though separated by distance, in the bond of a common faith (...)]. Später im Brief sprechen sie eine dringende Bitte an Augustin aus: "[...] qui incognitos sibi nos, et longinqua soli vel sali intercapedine disparatos, spiritu verae dilectionis, qui ubique et penetrat et effunditur [...]." [(...) and to come in contact with us by writing, even when we were unknown to him, and severed by a wide interval both of land and sea]. Auch Berthgyth wird durch das Meer von ihrem Bruder getrennt. Wie Augustin mit seinen Freunden, so sind auch sie als Schwester und Bruder durch ihre ‘Seelenfreundschaft’ und Liebe vereint. Diese Liebe kann keine Entfernung zerstören: "Multae sunt aquarum congregationes inter me et te, tamen caritate iungamur; quia vera caritas numquam locorum limite frangitur". [There are many congregations of waters between me and you – still let us be one in love, for true love is never broken by severence of place]. Das Thema des Meeres und der Landtrennung ist aber nicht nur in Briefen eine häufig verwendete Trennungsmetapher. Auch in Klagegedichten werden die Elemente Wasser und Erde als Metaphern für die Unerreichbarkeit des Geliebten verwendet.
2.5. Die Gebetsbitte
Die Berthgyth-Briefe enthalten ein weiteres Thema, dem eine besondere Rolle bei der Augustin-Rezeption durch die Angelsachsen zukommt. Der formalisierten vale-Formel geht in zwei Briefen die Bitte um ein Gebet voran. In Brief Nr. 147 schließt Berthgyth mit den Worten: "Oro pro te sicut pro me diebus ac noctibus, horis atque momentis, [...]", [I pray for you as for myself, in the days and the nights, in the hours and the moments (...)]. Das abschließende Gedicht in Brief Nr. 148 leitet sie mit folgender Zeile ein: "Pro me, quaero, oramina precum; [...]", [Für mich erbitte ich Bittgebete; (...)].
Die meist am Ende der Briefe hinzugefügte und explizit ausgesprochene Gebetsbitte ist in den meisten angelsächsischen Briefen zu finden. Außer in den speziell zu diesem Zweck verfaßten Briefen ist sie überwiegend in jenen vorhanden, die das Thema amicitia behandeln. Gerchow erkennt in der Gebetsbitte ein typisch insulares Merkmal, das von den Angelsachsen nach der Rezeption von amicitia hinzugefügt wurde. Er betont, daß "[...] die Intensität der so oft wiederholten und deshalb formelhaft werdenden Gebetsbitte nicht etwa Gemeingut der Briefliteratur des Frühmittelalters, sondern besonderes Charakteristikum der Angelsachsen [ist]."
Die Gebetsbitten des gesamten Briefkorpus sind variabel, doch läßt sich ein typisches Formelgut erkennen. Sie reichen von der einfach formulierten Bitte bis hin zu der mehrere Zeilen umfassenden elaborierten Formel. Der Rang der die Gebetsbitte fordernden Person ist unerheblich, ebenso der des Adressaten. Neben zahlreichen Bitten von und an den niederen Klerus finden sich auch solche an Äbte, Bischöfe und Könige. Außer den von Einzelpersonen verfaßten Bitten gibt es auch Briefe von mehreren Personen an zwei oder mehr Adressaten. Vorbilder für die Gebetsbitte sind jedoch ebenfalls in den Briefen Augustins zu finden. Sie sind keinesfalls originär angelsächsisch. Augustin betont in einigen Schreiben die Wichtigkeit des sentire deum als eine der wichtigsten Pflichten der Freundschaft.
Die gegenseitige Bitte um Gebet ermöglicht den Freunden, sich durch Gott nahe zu sein. Gott ist die Kraftquelle, die es ermöglicht, das Beste aus einer gegenseitigen Freundschaft zu ziehen. Venantius Nolte beschäftigte sich ausführlich mit der Rolle der Gebetsbitte bei Augustin und erklärt ihre Funktion folgendermaßen: "Die menschliche Liebe drängt zum geistigen Verkehr und Gefühlsaustausch und erst recht die Liebe zu Gott, zu dem die Freunde in heiliger Gemeinschaft sich hingezogen fühlen." Die Gebetsgemeinschaft ermutigt die Freunde, sich gegenseitig Gutes zu tun. In Augustins Lehre ist die Gebetsbitte notwendiges Element der Freundschaft. Die Freunde können sich zum einen in Gott vereinen, zum anderen kann die Gebetsbitte anderen helfen, die höchsten menschlichen und göttlichen Werte zu erreichen.
Augustin verspricht in seinen Briefen, für seine Freunde zu beten und Gott zu bitten, ihnen zu helfen, sie zu beschützen und zu trösten. Dementsprechend erwartet er dasselbe von seinen Freunden. So schreibt Augustin in einem Brief an Proba, in dem er ihr die Signifikanz des Gebetes und des Betens für andere ausführlich erläutert: "Sane memincritis et pro nobis non negligenter orare." [(...) By all means remember to pray earnestly for me. [...]." Auch seine Freunde bitten ihn um Zuspruch und Hilfe durch das Gebet. "[...] orationibus tuis tanquam tabula sustine [...]." "[...] support me by your prayers, as by a plank [...]" und "Commenda nos omnibus sanctis, ut tecum pro nobis orare dignentur." "[...] commend us to them all, that they may, along with yourself, remember us in prayer" schreiben Paulinis und Theresia an ihren Freund, und Publicola schreibt ihm: "Dominus te servet: saluto te; ora pro me." "[...] May the Lord preserve thee. I salute thee. Pray for me."
Im Gegensatz zur Rezeption anderer patristischer Themen, deren Darstellung und Verwendung kaum von ihren Vorbildern abweichen, wurde die Gebetsbitte von den Angelsachsen besonders willig aufgegriffen und den eigenen Bedürfnissen angepaßt. Die bereits von Gerchow dargestellte Formenvielfalt dieses Themas spiegelt seine zentrale Bedeutung innerhalb des frühen angelsächsischen Schrifttums wider. Der Grund, diesem Thema einen solch hohen Stellenwert zukommen zu lassen und damit eine Werteverschiebung gegenüber Augustin zu vollziehen, liegt vermutlich in den politischen und sozialen Veränderungen des englischen Frühmittelalters. Die Kirche war bereits institutionalisiert, und der christliche Glaube spielte im täglichen Leben eine zentrale Rolle. Die öffentliche Bezeugung christlicher Werte war notwendig, um die Zugehörigkeit, aber auch die Demut gegenüber dem neuen Glauben zu demonstrieren. Die Gebetsbitte nahm so eine Mittlerposition zwischen der Rezeption überkommener Traditionen, wie sie von Augustin bekannt war, und der Befolgung christlicher Pflichten ein und wurde damit zu einem der zentralen Themen der angelsächsischen amicitia. Die Bitte um Gebet ist bei den Angelsachsen Schnittpunkt zwischen den Themen amicitia und fraternitas absentium. Sie ist Ausdruck der höchsten Form der ‘Freundschaft’, der amicitia spiritualis, und verdeutlicht die Funktion Gottes, die Präsenz des Seelenfreundes darzustellen.
3. Gattungsproblematik: Prosa, Versdichtung, Brief
Die Themen amicitia und fraternitas absentium treten, wie erwähnt, bereits in der römischen Literatur auf. Die antike Briefliteratur bediente sich bereits verschiedener Formen des Briefgedichtes. Sie wurden auch als Episteln (epistulae) bezeichnet. Wie Anne Klincks Untersuchung zeigt, weisen die poetischen Episteln – besonders Ovids (43 v.Chr.-ca. 17 n.Chr.) Epistulae ex Ponto – eine motivische Nähe zu den altenglischen Elegien auf. Eine deutliche Nähe ist bei der Darstellung der Themen ‘Exil/Verbannung’ und ‘Klage über Krankheit und Alter festzustellen.
3.1. Klassische Vorlagen: Die Epistulae heroidum
Die Heroides stellen eine Sonderform der Epistel dar. Diese Briefgedichte Ovids verfügen über eine gänzlich orale Struktur und suggerieren, neben ihren monologischen Partien, eine Dialogform. Es handelt sich hierbei um fingierte Briefwechsel heroischer Liebespaare, beispielsweise von Hero und Leander oder Dido und Aeneas. Thematisiert werden für den Brief typische Motive wie Eifersucht, Trennung, Leid oder Sehnsucht. Allgemein blicken die Heroinen von ihrer unglücklichen Gegenwart zurück in die bessere Vergangenheit, wobei sie die ebenfalls als hoffnungslos erscheinende Zukunft miteinbeziehen. In abwechselnd monolo-gischer und dialogischer Form beschreiben die von ihren Männern getrennten Frauen ihr Leid. Ein Hauptmotiv ist wiederum die Einsamkeit:
Vir mihi semper abest, et coniuge notior hospes,
Monstraque terribilis persequiturque feras.
Mon mari est un perpétuel absent; il m’est plus connus comme hôte que comme époux; il poursuit des monstres et des fauves terribles.
Den Hintergrund der heroischen Briefe bildet die Trennung der Liebespaare sowie das Verlangen, den anderen bald wiederzusehen. Durch das Schreiben überwinden die Heroinen die Abwesenheit ihrer Männer. Durch die pseudodialogische Form der Briefe schaffen die Frauen eine fiktive Präsenz des Geliebten. Die körperliche Abwesenheit wird demnach geistig überwunden. Das Motiv des ‘durch den Brief Sprechens’ ist bereits bei Cicero vorhanden; man kann davon ausgehen, daß die Idee, die Schriftlichkeit des Briefes gedanklich zu überspielen, als Brieftopos römisches Gemeingut war.
Mit dem Motiv des Versbriefes als Gespräch ist auch hier die Vorstellung der Präsenz des Empfängers verbunden. Diese fingierte Oralität verschafft den Frauen, ebenso wie Augustins Freundin Proba oder Berthgyth, eine große Nähe zu ihrem (scheinbaren) Gegenüber, wogegen die eigentliche schriftliche Form des Briefes die Distanz der Partner verdeutlicht. Die Intention des Briefes ist es also, eine Kommunikation mit dem Abwesenden zu führen, so als wenn man mit ihm selbst spräche (quasi viva voce).
3.2. Horaz
Auch Horaz (65 v.Chr.-8 v.Chr.) sah sich in seinen Briefen in erster Linie in der Rolle des Freundes und Ratgebers. Er spendete durch sie Trost und vermittelte das Gefühl der Gebor-genheit. Immer wieder versuchte er, seine Freunde aufzumuntern:
tolle querellas;
pauper enim non est, cui rerum suppetit usus.
si ventri bene, si lateri est pedibusque tuis, nil
divitiae poterunt regales addere maius.
[Fort mit den Klagen! Arm ist doch nicht, wer genügend zum Leben besitzt!
Wenn dein Magen in Ordnung ist, Lungen und Füße auch, dann können
keine königlichen Schätze dir noch irgend etwas hinzufügen!]
Für Horaz war der Brief poetisches Medium, und er verwendete ihn auch dort, wo der Inhalt besonders persönlich gehalten war. Darüber hinaus diente der Brief als Instrument, um seine Situation in der Gesellschaft zu kennzeichnen, um seine Distanz, aber auch seine Nähe zu ihr oder zu einem Menschen zu zeigen.
Wenn der Brief also als Instrument der Vermittlung durch sich Distanz und Überwindung, Differenz und Zusammengehörigkeit markiert und bezeugt, die in ihm wirksame Polarität damit gleichsam ‘ausspielt’, figuriert er als ‘logische’ Metapher für Beziehungen, in die Horaz generell sich gestellt sieht: privat, öffentlich und, was Horaz insbesondere auszeichnet, als Philosoph, als Künstler. Und immer als Freund. Nicht nur, wenn er speziell seine Rolle als amicus erörtert; der Brief gilt allgemein als Zeugnis freundschaftlicher Zuneigung und ist dementsprechend vertraulich-intim. Wenn Horaz ihn freilich veröffentlicht, auch da, wo er persönlich gehalten scheint, [...] so ist offenbar sehr bewußt und mit Bedacht die Gesellschaft zum Adressaten gemacht, an die sich der Brief dann, losgelöst vom bestimmten Empfänger, gleichsam als eine Art ‘Ansprache’ richtet.
Sein Brief an Bullatius verdeutlicht beispielsweise den Abstand, den Horaz öfter zu seinen Freunden suchte:
‘scis, Lebedus quid sit? Gabiis desertior atque
Fidenis vicus; tamen illic vivere vellem
oblitusque meorum, obliviscendus et illis,
Neptunum procul e terra spectare furentem?
[Du weißt, was Lebedos ist? Ein Nest, einsamer noch als Gabii und Fidenae. Dennoch möchte ich dort leben, vergessend meiner Freunde, von ihnen auch vergessen, und vom Land aus schauen, wie in der Ferne rast Neptun.]
Horaz war seinen Freunden aber auch sehr nah. Er umsorgte und beschützte sie, wie ein Schreiben an seinen Verwalter zeigt:
me quamvis Lamiae pietas et cura moratur
fratrem maerentis, rapto de fratre dolentis
insolabiliter, tamen istuc mens animusque
fert et avet spatiis obstantia rumpere claustra.
[Mich hält freilich hier Liebe und Sorge für Lamia fest, der seinen Bruder betrauert, der untröstlich leidet ob seines Bruders Verlust; doch Sinn und Geist tragen mich dorthin und möchten gern alle Hindernisse auf dem Weg zerbrechen.]
Die exemplarische Darstellung antiker Briefe verdeutlicht, daß sich die Hauptthemen angelsächsischer Briefe – amicitia und fraternitas absentium – über eine stringente Rezep-tionskette bis in die klassiche Literatur zurückverfolgen lassen. Für die Patristen bedeutet dies, daß auch sie sich der ‘kulturellen Übersetzung’ bedienten, um Leerstellen in der eigenen Schriftkultur zu füllen. Originär patristisch ist demnach nur die Bitte um Gebet.
5.0. Schlußfolgerung
Für Berthgyths Briefe läßt sich also folgendes festhalten: Formal folgen sie primär dem vorgegebenen Aufbau frühmittelalterlicher Briefe. Sie erscheinen daher als konventionell und an die Brieftradition gebunden. Darüber hinaus beinhalten sie aber auch Kriterien, die an antike Versbriefe erinnern und die sie in die Nähe der Literatur rücken. Das verbindende Element ist hierbei die Versinterpolation.
Die thematischen Vorlagen liefern die Briefe Augustins. Durch die Vermittlung bestimmter Themen durch die Patristen ist aber auch hier eine deutliche Anlehnung an antike Muster zu er-kennen. Diese – hierbei ist besonders das Thema fraternitas absentium und dessen Unterthe-men zu nennen – rücken die angelsächsischen Briefe in die scheinbare Nähe der Elegien. Durch die Verarbeitung dieser literarischen Themen wirken die Briefe spontan und individuell und drücken Privatheit und Intimität aus. Die enge Verwandtschaft zwischen Berthgyths Briefen und den Elegien, die beide als ursprünglich von derselben Quelle abgeleitet erscheinen läßt, nämlich der Versepistel, wirft eine neue Frage in der Gattungsdiskussion auf. War die bisher schlüssigste These die, die Elegien als von lateinischen Vorlagen abgeleitete Klagegedichte zu interpretieren, die die Briefe beeinflußten, so erscheint nun die Möglichkeit schlüssig, die Elegien selbst als Briefe zu betrachten. Diese Möglichkeit bedarf jedoch der weiteren Forschung.
Wie die obigen Ausführungen zeigen, sind Berthgyths Briefe weder originäre noch originell. Ihr fiktionaler Status ist auf die Nähe zu den altenglischen Elegien und antiken literarischen Versbriefen zurückzuführen.